Die vergessenen Heilkundigen
Der Antoniterorden und der Ergotismus
Im Jahre 1985 hatte das "Deutsche Ärzteblatt" Veranlassung, auf Erscheinungsformen einer Krankheit hinzuweisen, deren Ursachen und Symptome heutigen Ärzten aus ihrer medizinischen Praxis kaum noch geläufig sein dürften. Ausgerechnet die als so gesund geltende morgendliche Müslimahlzeit wurde, wenn von unbedachter Hand zusammengestellt, als Verursacher einer Vergiftung mit Mutterkornalkaloiden entlarvt. Mit anderen Worten, mehr als zweihundert Jahre nach den letzten Massenerkrankungen dieser Art kam mit dem Ergotismus eine Krankheit zurück, die bis zu ihrem Verlöschen im 19. Jahrhundert tausend Jahre lang in regelmäßigen Wellen von epidemischen Ausmaßen unzähligen Menschen schweres Leid, Verkrüppelung und Tod gebracht hatte.
Vergiftung durch Mutterkorn
Ursache des Ergotismus oder der Mutterkornvergiftung ist der Genuß von Mutterkorn (Secale cornutum), der Dauerform des Schlauchpilzes Claviceps purpurea Tulasne. Der Mutterkornpilz befällt vorwiegend den Roggen, wenn während der Reifezeit ein feuchtwarmes Klima herrscht. Der Pilz ist von erheblicher toxischer Wirkung. In einer Zeit, da die Menschen sich meist von Getreide in Form von Brot, Grütze und Brei ernährten und angesichts vieler Hungersnöte sowie einer unterentwickelten Vorratswirtschaft auch das befallene Getreide einer neuen Ernte in Unkenntnis der Folgen gierig verbrauchten, hatte ein verbreiteter Mutterkornbefall des Grundnahrungsmittels verheerende Auswirkungen.
Halluzinationen
Die Mutterkornvergiftung tritt in zwei Erscheinungsformen auf, die schon im 11. Jahrhundert von dem Mönch Sigebert von Gembloux deutlich beschrieben wurden. Beide, der Ergotismus convulsivus (Krampfseuche) und gagraenosus (Brandseuche), beginnen mit gleichen Symptomen: Kopfschmerzen, Erbrechen, Kribbeln am ganzen Körper.
Beim Ergotismus kommt es dann zu schweren Krämpfen oft bleibenden sehr schmerzhaften Kontraktionen ganzer Muskelgruppen Muskelschwund. Durst vor allem Heißhunger führtenhufig zur Einnahme weiterer befallener Nahrung, wodurch verderbliche Wirkung noch weiter gesteigert wurde. Die toxische Wirkung erstreckte sich auch auf bestimmte zentrale Nervenbahnen, was bis zur Verblödung und schweren Halluzinationen aufgrund des Vorhandenseins-Droge LSD (Lysergsure-Dithylamid) als charakteristischem Bestandteil Mutterkornalkaloide führte.
Der Ergotismus führte durch Verengung der Blutgefäße zu einer Unterbrechung der Blutzirkulation, was ein Absterben der Gliedmaßen zur Folge hatte. Wenn der Tod nicht durch eine Blutvergiftung eintrat, fielen oft die durch Brand schwarz gewordenen Gliedmaßen schließlich ab. Häufig mussten die abgestorbenen Körperteile auch auf chirurgischem Wege amputiert werden, um wenigstens das Leben Betroffenen retten.
Eine Seuche
Beim Ergotismus stören die Alkaloide die Funktion der Nerven und den Zellstoffwechsel, so dass die gesamte Zellfunktion zusammenbricht. Zumindest den vom gangränen Ergotismus Gepeinigten könnte heute durch den gefäßerweiternden Wirkstoff Pentoxifyllin geholfen werden. Obwohl die Krankheit der Mutterkornvergiftung schon im Spätmittelalter einigermaßen zuverlässig diagnostiziert werden konnte, gaben insbesondere die Symptome des Ergotismus gangraenosus auch Anlass zur Verwechslung mit anderen Krankheiten. Schwarze Flecken, Pusteln oder Beulen ließen auch an die Pest, die Pocken, das Fleckfieber, Syphillis oder Aussatz denken, Seuchen, von denen ab dem 14. Jahrhundert die Menschen in regelmäßig wieder- kehrenden Epidemien heimgesucht wurden.
Der weltberühmte Isenheimer Altar, von der Hand des Mathias Grünewald um 1510 bis 1515, zeigt in der Darstellung der Versuchung des hl. Antonius einen Dämon, der mit den Kennzeichen der Seuchen seiner Zeit behaftet ist. Die Verkrüppelung der Hand, die Gangräne und die trockene, faltige Haut lassen die Symptome des Ergotismus deutlich erkennen.
Schon am Ende des 11. Jahrhunderts bildete sich im heutigen St. Antoine in der Dauphiné eine Spitalbruderschaft von Laien, die sich der Pflege der an der Mutterkornvergiftung Erkrankten annahm. Aus der Laienbruderschaft wurde im 13. Jahrhundert ein Orden von regulierten Chorherren, der Anotniterorden. Seinen Namen hatte er von St. Antonius Eremita (ca. 251 bis 356), dessen Gebeine aus Ägypten in die Dauphiné gelangt waren und wo er bald von Kranken und Pilgern um Beistand gegen das "Antoniusfeuer" oder "ignis sacer", wie man den Ergotismus im Mittelalter nannte, angerufen wurde.
Ein reiner Hospitalorden
Mit der ungeheuren Verbreitung der Mutterkornvergiftung über ganz Europa erfuhr auch der Antoniterorden eine Bedeutung und Ausdehnung, die dazu führte, dass im 15. Jahrhundert in ganz Europa etwa 370 Niederlassungen bestanden. In Deutschland wurde noch vor 1200 das Haus Roßdorf begründet, die spätere Generalpräzeptorei Roßdorf/Höchst.
Der Antoniterorden war von Anfang an und in seiner Blütezeit bis ins 16. Jahrhundert ein reiner und hochspezialisierter Hospitalorden, der sich ausschließlich der Pflege der am Ergostismus Erkrankten widmete. Die gezielte Behandlung einer einzigen, wenngleich weitverbreiteten Krankheit hatte, obwohl man ihre Ursachen erst spät erkannte, beträchtliche Erfolge und machte die bei fast jeder Antoniterniederlassung vorhandenen Spitäler zu den führenden Krankenhäusern ihrer Zeit.
Das Rezept ging verloren
Diagnose, Therapie und Pflege nach den besten Erkenntnissen der Zeit und basierend auf den langen Erfahrungen mit der Krankheit waren das Geheimnis des Erfolges der Antoniter. Nur das Beste war für die Kranken gut genug. Zwar spielte der Beistand des hl. Antonius nach den Vorstellungen der Zeit eine nicht geringe Rolle. Ansonsten aber hatten in den Antoniterhospitälern angestellte Fachärzte das Sagen, und in der Therapie begegneten sich eine ausgewogene Diät und die gezielte Verwendung erprobter Kräuter als Heilmittel. Sauberkeit und ein geregelter Tagesablauf unter Einbeziehung der Kranken bestimmten das Leben im Antoniterspital. Auch wurden nicht nur die akut Erkrankten versorgt. Die vom Ergotismus Verkrüppelten und Behinderten hatten ebenfalls ihre Heimstatt im Antoniterspital, und auch alte und arbeitsunfähige Menschen konnten hier einen menschenwürdigen Lebensabend verbringen.
Die Therapie
Die Therapie der Krankheit war einfach, aber wirksam. Nach der Aufnahme ins Hospital erfolgte eine genaue Krankenschau unter Beteiligung von erfahrenen Kranken und eine gesunde Ernährung, wobei gutes Brot, Schweinefleisch und der Antoniuswein eine Rolle spielten. Das Rezept für den Antoniuswein, ein mit Heilkräutern versetzter Wein, ging im 17. Jahrhundert verloren. Auf dem "Gesprächsflügel" des Isenheimer Altares sind jedoch zahlreiche Kräuter abgebildet, die nach der medizinischen Literatur der Zeit als Wundmittel, zur Hautbehandlung, gegen Drüsenschwellungen und Karbunkel, zur Entgiftung des Körpers und gegen Nervenleiden angewendet wurden. Da der Isenheimer Altar von den Antonitern in Auftrag gegeben wurde, darf man annehmen, dass diese Kräuter in ihren Hospitälern gebracht wurden.
Seit dem Jahr 1441 wirkte der Antoniterorden auch in Höchst. 1515 bis 1528 wurde ein großes Hospital, das zur Hälfte noch heute steht, erbaut. In dessen Krankensaal im Erdgeschoß von vermutlich mehr als 30 Metern Länge fanden die Kranken Aufnahme, während in den Kammern des Obergeschosses die Langzeitinsassen, die Pfründner, ihr Leben fristeten. Auf dem Höhepunkt seines Wirkens zeigt das Höchster Hospital noch einmal die Leistungsfähigkeit des Antoniterordens auf dem Gebiet der Heilkunst.
Der Niedergang
Der Zenit der Ordensentwicklung war im frühen 16. Jahrhundert schon bald überschritten. Die Reformation beschnitt den Wirkungskreis des von Stiftungen und Spendensammlungen lebenden Ordens beträchtlich. Auch erahnte man allmählich die Wirkungszusammenhänge zwischen Mutterkornvergiftung und befallenem Getreide. Die Folge war ein Zurückgehen des Ergotismus als epidemische Massenerkrankung, auch wenn er bis zum Ende des 19. Jahrhunderts immer noch auftrat. Der Antoniterorden verlor seine Existenzberechtigung. In Höchst endete die Hospitaltätigkeit schon bald nach einer lobenden Erwähnung im Jahr 1532. Der Niedergang des Ordens erfasste gleichmäßig alle Niederlassungen in Europa und dauerte mehr als 200 Jahre. 1776 verfügte ein päpstliches Dekret ein Aufgehen der Antoniter im Malteserorden. Die verbliebenen deutschen Häuser Köln und Höchst entzogen sich dieser Maßnahme. Die Säkularisation bereitete auch ihnen ein Ende. Als letztes Antoniterhaus der Welt schloss Höchst im Januar 1803 seine Pforten.
Dr. Wolfgang Metternich